Mit einer neuen Studie wollen wir besser verstehen, wie es um Polarisierung, Zusammenhalt und Kompromissfähigkeit der Schweiz steht

Ivo Scherrer und Isabel Schuler, 2024
In einer neuen Studie geht Pro Futuris der Vielfalt und dem Zusammenhalt des Landes auf die Spur und versucht besser zu verstehen, wie es um die Polarisierung steht und inwiefern sie ein Problem für die Demokratie sein kann.
Seit Jahren wird beklagt, die politische Debatte in der Schweiz verhärte sich, der gesellschaftliche Umgang werde rauer, die Schweiz polarisiere sich stark rund um brisante politische Fragen wie den Umgang mit der Pandemie, die Ausgestaltung der Neutralität in Anbetracht der Kriege in der Ukraine und in Gaza, den Umgang mit Migration und Europa oder mit Blick auf mögliche Antworten auf die Klimakrise.

Ausgehend von den Daten, die zu Polarisierung bereits bekannt sind, wollen wir bei Pro Futuris einen Schritt weiter gehen -  und uns auf die Suche nach Formen, Symptomen, Ursachen und möglichen Auswirkungen der Polarisierung machen. Dabei wollen wir auch die Frage beleuchten, was die so vielfältige Schweizer Gesellschaft denn zusammenhält und wo sich die Schweizer Bevölkerung mehr gegenseitiges Verständnis erhofft.

Gemeinsam mit der Stiftung Mercator Schweiz und der Uni Bern führen wir zur Zeit eine Studie in Form einer repräsentativen Bevölkerungsumfrage durch. Die Resultate erwarten wir im November. In diesem Beitrag möchten wir darüber berichten, welche Fragen uns umtreiben.

Was verstehen wir unter Polarisierung?

Polarisierung im engeren Sinne lässt sich in zwei Phänomene unterteilen. Das erste Phänomen, die politische Polarisierung, misst, wie weit die inhaltlichen, d. h. ideologischen, Programme und Positionen von politischen Akteuren und der Bevölkerung auseinanderliegen. Die politische Polarisierung wird meist zwei-dimensional entlang einer wirtschaftlichen links-rechts-Achse und einer gesellschaftlichen progressiv-konservativ-Achse gemessen.

Das zweite Phänomen, die affektive Polarisierung, misst, mit wie viel Sympathie und Antipathie sich Menschen begegnen, die sich jeweils einer anderen politischen oder gesellschaftlichen Gruppe zuordnen.

Polarisierung misst also sowohl die ideologische als auch die emotionale Distanz zwischen Bürger:innen und politischen Akteuren.

Wieso interessiert uns Polarisierung?

Politische Polarisierung per se erachten wir bei Pro Futuris nicht als problematisch. Sie ist Ausdruck einer Vielfalt an politischen Antworten auf gesellschaftliche, wirtschaftliche und politische Fragen. In einer demokratischen, pluralen Gesellschaft brauchen wir diese politische Vielfalt, um mehrheitsfähige Lösungen zu erarbeiten.

Eine starke affektive, d. h. emotionale, Polarisierung kann hingegen problematisch werden, wenn sich starke Antipathien gegenüber anderen Gruppen, bzw. Menschen, die anders denken und leben, in destruktivem Verhalten zeigen. Gefährlich wird es dann, wenn sich die Bewohnerinnen des Landes gegenseitig mit Misstrauen und Vorurteilen begegnen, sich gegenseitig niedere Motive unterstellen, oder sich gegenseitig die Legitimität absprechen, überhaupt Teil der Gesellschaft zu sein. Dann untergräbt die affektive Polarisierung die Toleranz, die wir brauchen, um als vielfältige Gesellschaft friedlich zusammenleben zu können und gefährdet unsere Fähigkeit, breit abgestützte Kompromisse zu politischen Herausforderungen zu finden. Wenn sich starke emotionale Ablehnung in Gehässigkeit, Hate Speech oder sogar Gewalt äussert, verhindert affektive Polarisierung auch, dass sich Menschen überhaupt freiwillig und politisch engagieren und sich entsprechend exponieren.

Wer sich dafür interessiert, welche Formen und Auswirkungen der Polarisierung wir in der Schweiz heute für problematisch halten, findet hier eine aktuelle Einordnung.

Was wissen wir über Polarisierung in der Schweiz?

  • Die politische Polarisierung ist in der Schweiz im europäischen Vergleich vergleichsweise hoch und hat in den letzten 30 Jahren stark zugenommen. So hat sich die Stimmbevölkerung in diesem Zeitraum  stark den politischen Polen zugewandt. Der Anteil der Bevölkerung, der sich auf einer Skala von 0-10 zur politischen Mitte zählt (d. h. sich als eine “5” auf der Skala einordnet), hat sich von 30 Prozent auf knapp 15 Prozent halbiert (Selects, 2024). Die politischen Pole – also SP und Grüne einerseits und die SVP anderseits – sind im europäischen Vergleich relativ wählerstark und liegen ideologisch vergleichsweise weit auseinander (Bochsler et al., 2015). Die Schweizer Bevölkerung äussert in jüngeren Umfragen, dass die Schweiz besonders entlang den Unterschieden von 1) Arm und Reich, 2) Links und Rechts, 3) sowie Stadt und Land auseinanderdrifte (Generationenmonitor Generationenhaus / sotomo, 2022).
  • Die affektive Polarisierung ist gemäss der wenigen Daten, die wir dazu in der Schweiz haben, im  internationalen Vergleich relativ hoch (Boxell et al., 2020). Sie ist besonders im Zeitraum von 1999 bis 2003 gestiegen und seither stabil geblieben (Jansen und Stutzer, 2024). Sympathisant:innen der SVP und Grünen begegnen sich gegenseitig mit besonders viel Antipathie (SRG / sotomo, 2023). Menschen, die selbst affektiv stark polarisiert sind, misstrauen der Demokratie eher und sind gleichzeitig eher politisch engagiert als andere. Dabei ist unbekannt, welchen Einfluss das Verhalten von affektiv stark polarisierten Menschen auf das politische Interesse und das politische Engagement von Menschen hat, die weniger stark affektiv polarisiert sind (Jansen und Stutzer, 2024).
  • Die Schweizer Bevölkerung wünscht sich mehr gegenseitiges Verständnis und beklagt Fragmentierung und Populismus: So sagen zwei Drittel der Bevölkerung, dass Probleme in der Gesellschaft gerne totgeschwiegen würden und 81 % finden, Schweizer:innen müssten gegenüber anderen Standpunkten toleranter sein (Wie geht’s Schweiz, gfs). Fast zwei Drittel der Bevölkerung – und zwar über alle Parteigrenzen hinweg – beklagen zudem, dass sich die Schweizer Gesellschaft zunehmend in unversöhnliche Klein- und Kleinstgruppen zersplitterte und 81 % stimmen der Aussage dazu, dass diejenigen Politikerinnen am meisten Aufmerksamkeit erhielten, die am stärksten provozierten und nicht diejenigen mit den besten Ideen (Demokratiemonitor Pro Futuris / gfs). Drei Viertel der Bevölkerung ist ausserdem der Auffassung, dass das Empathievermögen in der Schweiz abgenommen habe (Generationenmonitor Generationenhaus / sotomo). Gleichzeitig sind fast 90% der Bevölkerung der Meinung, dass die Schweiz deswegen erfolgreich sei, weil keine einzelne Partei oder Interessengruppe alleine entscheiden kann und deshalb alle politischen Entscheidungen Kompromisse verlangen (Demokratiemonitor Pro Futuris / gfs).
Wer sich für eine detailliertere Übersicht über relevante, aktuelle Daten interessiert, findet diese hier.

Welches Wissen fehlt uns, um die Polarisierung in der Schweiz besser zu verstehen?

Im Fokus unserer aktuellen Studie steht der Wunsch, Ursachen, Symptome und mögliche Ausprägungen von Polarisierung besser zu verstehen. Wir konzentrieren uns dabei insbesondere auf die affektive, d.h. emotionale, Polarisierung zwischen Parteien, gesellschaftlichen Gruppen und von BefürworterInnen/GegnerInnen gewisser sachpolitischer Fragen.

Auf folgende Fragen möchten wir mit unserer Studie Antworten oder Hinweise liefern können:
  • Welche politischen Sachfragen polarisieren affektiv besonders stark?
  • Gibt es einen Zusammenhang zwischen sachpolitischer und affektiver Polarisierung?
  • Welchen politischen, sozialen und religiösen Gruppen wird besonders viel Sympathie, bzw. Antipathie entgegengebracht?
  • Wie hängt affektive Polarisierung mit der Diskurs- und Kompromissbereitschaft der Bevölkerung zusammen?
  • Wie korreliert affektive Polarisierung mit dem Ausmass an Toleranz und Vertrauen, das wir anderen Menschen entgegenbringen sowie dem Wunsch, andersdenkende Menschen aus Demokratie und Diskurs auszuschliessen?
  • Besteht ein Zusammenhang zwischen hoher affektive Polarisierung und dem Gefühl, dass einem im Leben materiell oder sozial mehr zustehen würde (sogenannte “relative Deprivation”)?
  • Wie geht affektive Polarisierung mit der Einschätzung des eigenen sozialen Status einher?
  • Wie korreliert affektive Polarisierung mit der Einschätzung der Wirksamkeit und Sinnhaftigkeit von politischem Engagement?
  • In welchen Lebensbereichen wünschen sich Menschen in der Schweiz mehr gegenseitiges Verständnis?
  • Was verbindet die Menschen in der Schweiz?
Wie es um die Polarisierung, den Zusammenhalt und die Kompromissfähigkeit der Schweizer Bevölkerung steht… dazu werden wir dank unserer Studie mehr erfahren. Im November werden wir die Resultate teilen können.

Hinweis

Hinweis: Dieser Text wurde im August 2024 als Debattenbeitrag auf der Website von Pro Futuris publiziert.

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