Polarisierte Gesellschaft, gefährdete Demokratie?

Eine Analyse der Bereitschaft von Schweizer:innen, mit Andersdenkenden im Austausch zu stehen, politische Kompromisse einzugehen und unliebsame Parteien als Teil der Demokratie zu akzeptieren

Wir beleuchten die Polarisierung mit einer neuen Studie

Entlang welcher Fragen und zwischen welchen Gruppen ist die Schweiz besonders polarisiert? Und welche Auswirkungen hat die Polarisierung auf das Verhalten der Schweizer Bevölkerung?

Um Antworten auf diese Fragen zu finden, haben Pro Futuris und die Stiftung Mercator Schweiz Anfang Sommer 2024 eine nationale Bevölkerungsumfrage durchgeführt.

In den ersten beiden Teilen der Studienreihe haben wir den Blick auf die Polarisierung der Schweizer Bevölkerung gerichtet – mit Blick auf politische Sachfragen und auf die Sympathien zwischen politischen und gesellschaftlichen Gruppen. In diesem letzten Teil analysieren wir drei für die Demokratie besonders relevante Einstellungen der Schweizer Stimmbevölkerung.

Titel

Polarisierte Gesellschaft, gefährdete Demokratie?

Untertitel

Wie steht es um die Bereitschaft von Schweizer:innen, mit Andersdenkenden im Austausch zu stehen, politische Kompromisse einzugehen und unliebsame Parteien als Teil der Demokratie zu akzeptieren?

Publikationsdatum

Juni 2025

Autor:innen

Ivo Nicholas Scherrer, Isabel Schuler, Flurina Wäspi

Inhalt

In diesem dritten Teil der Studienreihe zu Polarisierung und Zusammenhalt in der Schweiz untersuchen wir, welche individuellen Eigenschaften und Verhaltensweisen das gesellschaftspolitische Zusammenleben und die Demokratie beeinflussen.

Medienkontakt

Ivo Scherrer
ivo.scherrer@profuturis.ch, +41 78 808 10 96

Die Ergebnisse in Kürze

Unsere Studie geht der Frage nach, inwiefern die Bevölkerung bereit ist, mit Andersdenkenden in den Austausch zu treten, politische Kompromisse einzugehen und auch unliebsame Parteien als legitimen Teil der Demokratie zu akzeptieren.

Ausschluss statt Aushandlung
37,7 Prozent der Stimmbevölkerung sind der Ansicht, es wäre besser oder eher besser für die Schweiz, wenn diejenige Partei, die ihnen am unsympathischsten ist, vom politischen Prozess ausgeschlossen würde – also nicht mehr an Wahlen oder Abstimmungen teilnehmen dürfte. 35,1 Prozent befürworten zudem den Ausschluss dieser Partei aus dem öffentlichen Diskurs, etwa von Debatten oder Medienauftritten. Besonders häufig befürworten solche Ausschlüsse Personen, die sich sozial benachteiligt fühlen, stark affektiv polarisiert sind oder den Austausch mit Andersdenkenden als wenig wertvoll empfinden.

Der Dialog wird geschätzt – theoretisch
76 Prozent der Bevölkerung halten den Austausch mit politisch Andersdenkenden für wertvoll. Ob jemand den Dialog als wertvoll erachtet, hängt stark vom Vertrauen in andere Menschen, dem politischen Interesse und davon ab, inwiefern es jemand überhaupt wichtig und sinnvoll findet, in einer Demokratie zu leben und an Wahlen teilzunehmen. Einen gegenteiligen Einfluss hat die affektive Polarisierung: Wer das eigene politische Lager stark bevorzugt und andere Lager deutlich ablehnt, empfindet den Dialog mit Andersdenkenden deutlich seltener als bereichernd.

Was Kompromissbereitschaft stärkt – und was sie hemmt
Kompromissbereitschaft wird begünstigt durch Vertrauen in Regierung und Medien, Zufriedenheit mit der Demokratie, ehrenamtliches Engagement und der Wertschätzung des Dialogs mit Andersdenkenden. Personen mit starker affektiver Polarisierung und/oder einer Präferenz für die SVP zeigen im Schnitt eine geringere Bereitschaft, politische Kompromisse einzugehen.

Schädliche affektive Polarisierung

Das Ausmass, wie stark jemand emotional polarisiert ist, hat einen klaren negativen Einfluss auf die Demokratie: Affektive Polarisierung schwächt die Kompromissbereitschaft, erhöht die Bereitschaft, die jeweils unbeliebteste Partei aus Diskurs und Wahlen auszuschliessen und verringert die Wahrscheinlichkeit, dass jemand den Austausch mit Andersdenkenden als wertvoll erachtet.

Bereitschaft zum Ausschluss unbeliebter Parteien aus der Politik

Die Zahlen

37,7 % der Stimmbevölkerung finden, es wäre besser für die Schweiz, wenn diejenige Partei, die ihnen am unbeliebtesten ist, vom politischen Prozess (das heisst beispielsweise von den Wahlen) ausgeschlossen würde. Etwas weniger, aber immer noch mehr als ein Drittel, nämlich 35,1% fänden es besser für die Schweiz, wenn die ihnen unbeliebteste Partei vom politischen Diskurs (das heisst beispielsweise von öffentlichen Debatten) ausgeschlossen würde.

Die Einflussfaktoren

Unsere Analyse zeigt, dass besonders Personen, welche sich stärker benachteiligt fühlen, die demokratiemüde sind und jene, die Social Media als Informationsquelle nutzen, mit einer höheren Wahrscheinlichkeit bereit dazu sind, die ihnen unbeliebteste Partei aus der Politik auszuschliessen. Eine tiefere Bereitschaft, die unbeliebteste Partei aus der Politik auszuschliessen, finden wir in unserer Analyse bei Personen, die sich häufiger mit Andersdenkenden austauschen, die ein höheres Vertrauen in die Regierung oder ein höheres Alter aufweisen, sowie bei denjenigen, die sich mit Freunden und Familie über Politik informieren.

Bereitschaft zum Austausch mit Andersdenkenden

Die Zahlen

Drei Viertel der Schweizerinnen und Schweizer sind der Ansicht, dass sich der Austausch mit Personen lohnt, die politisch eine ganz andere Meinung vertreten als sie selbst. Weniger als 5% sieht das überhaupt nicht so.   Knapp über 20% der Befragten geben an, dass sie nie mit politisch Andersdenkenden über politische oder gesellschaftliche Themen sprechen. Fast 40% tun dies ein bis zweimal im Monat, ebenso viele (40%) führen solche Gespräche mindestens einmal pro Woche.

Die Einflussfaktoren

Unsere Ergebnisse zeigen, dass eine Person den Dialog mit Andersdenkenden umso mehr wertschätzt, je zufriedener sie mit der Demokratie ist, je eher sie sich in Gesprächen mit Freunden und Familie über Politik informiert, je mehr sie politisch aktiv und interessiert ist und je mehr sie ihren Mitmenschen vertraut. Unsere Analyse bringt auch hervor, dass der Grad der affektiven Polarisierung gegenüber anderen Parteiwähler:innen einen negativen Einfluss auf die Wertschätzung des Dialogs mit Andersdenkenden hat.

Kompromissbereitschaft

Die Zahlen

Wir sehen in unseren Daten, dass sich die Schweizerinnen und Schweizer vor allem bei der Zuwanderung wenig kompromissbereit zeigen. Hier ist die Differenz zwischen den Nicht-Kompromissbereiten und Kompromissbereiten am grössten. Auch bei der Unterstützung der Ukraine sowie bei den Beziehungen zur EU zeigen sich mehr Schweizer:innen nicht kompromissbereit als kompromissbereit.

Das umgekehrte Bild sehen wir bei der Gleichstellung von Frauen in der Gesellschaft, der Frage nach dem Sozialstaat und seiner Finanzierung sowie beim Klimaschutz, etwas weniger ausgeprägt auch bei den Pandemiemassnahmen. In diesen Fragen sind höhere Anteile der Schweizer Stimmbevölkerung kompromissbereit als nicht. Ambivalent ist die Sache beim Schutz sexueller Minderheiten. Fast ebenso viele Schweizer:innen schätzen sich als kompromissbereit ein wie nicht. Der Anteil jener, die punkto Kompromissbereitschaft keine klare Neigung zeigen, ist hier mit fast 49% jedoch auch sehr hoch.

Die Einflussfaktoren

Unsere Analyse zeigt, dass eine Reihe von Faktoren die Bereitschaft einer Person zum politischen Kompromiss erhöhen. Dazu gehören die Wertschätzung des Austauschs mit Andersdenkenden, die Zufriedenheit mit der Demokratie, ehrenamtliches Engagement, politische Aktivitäten, ein höheres Vertrauen in die Mitmenschen, in die Medien und die Regierung sowie eine Präferenz für die Grünen, die glp oder die SP. Die affektive Polarisierung in Bezug auf Menschen mit anderen politischen Meinungen zu Sachfragen und in Bezug auf Menschen, die andere Parteien wählen sowie eine Präferenz für die SVP, verringern die Bereitschaft einer Person, politische Kompromisse einzugehen.  

Demokratien brauchen uns

Affektive Polarisierung

Der Grad der individuellen affektiven Polarisierung hat einen klaren negativen Einfluss auf drei zentrale demokratische Einstellungen: Sie schwächt die Kompromissbereitschaft, erhöht die Bereitschaft, die jeweils unbeliebteste Partei aus Diskurs und Wahlen auszuschliessen und verringert die Wahrscheinlichkeit, dass jemand den Austausch mit Andersdenkenden als wertvoll erachtet.

Persönliches Engagement

Unsere Analyse bringt hervor, dass ehrenamtliches Engagement, politische Aktivität wie auch ein höheres politisches Interesse die Kompromissbereitschaft stärken und die Wahrscheinlichkeit erhöhen, dem Austausch mit Andersdenkenden einen hohen Wert beizumessen.

Aus dem ersten Studienteil wissen wir zudem, dass ehrenamtliches Engagement die sachpolitische affektive Polarisierung senkt. Ehrenamtliches Engagement bringt uns als Nebeneffekt auch in den Austausch mit Menschen, die in anderen Lebensrealitäten zuhause sind und die politisch anders denken als wir. Ehrenamtliches Engagement hat also nachweislich zahlreiche positive Effekte. Für das langfristige Gedeihen der Demokratie ist es entsprechend essenziell, dass ehrenamtliches und politisches Engagement nicht zum Privileg der gut Gebildeten wird. Politik und Unternehmen sind angehalten, Anreize und Freiräume zu schaffen und Hürden zu verringern, damit sich mehr Menschen engagieren können.

Problemlösungsfähigkeit der Politik

Unsere Analyse zeigt auch, dass die allgemeine Zufriedenheit mit der Demokratie einen positiven Einfluss auf Kompromiss- und Dialogbereitschaft und die Bereitschaft hat, andere aus der Politik ausschliessen zu wollen. Wer der Demokratie jedoch müde ist, d. h. wer denkt, dass es sich nicht lohnt, an Wahlen und Abstimmungen teilzunehmen, und dass es nicht wichtig ist, in einer Demokratie zu leben, ist eher bereit, andere aus der Demokratie auszuschliessen und erachtet auch den Dialog mit Andersdenkenden als weniger wertvoll.

Gleichzeit sind Personen, die ein eher hohes Vertrauen haben auch eher kompromiss- und dialogbereit und sind weniger der Ansicht, dass es gut für die Schweiz wäre, die ihnen unbeliebteste Partei aus der Politik auszuschliessen.

Damit zeigt sich, dass die Wahrnehmung des demokratischen Systems an sich einen starken Einfluss auf Eigenschaften hat, die wiederum notwendig sind, damit die Demokratie überhaupt funktionieren kann. Entsprechend ist es zentral für die Schweiz, die im internationalen Vergleich hohe Zufriedenheit ins politische System der Schweiz nicht als gegeben hinzunehmen: das politische System muss in die eigene Problemlösungsfähigkeit investieren und damit der Bevölkerung zeigen, dass die Demokratie funktioniert und es sich lohnt, in sie zu investieren.

Demokratiefördernde und demokratiegefährdende Einstellungen

Empfinden gegenüber Parteien

Für eine Demokratie ist es zentral, dass alle ihre Meinungen in die öffentliche Debatte und die politische Entscheidfindung einbringen können. Daraus folgt, dass sich auch verschiedene politische Kräfte als Parteien organisieren dürfen. Die Demokratie lebt also davon, dass alle einen Platz am Entscheidungstisch haben und friedlich um Macht und Kompromisse ringen. Daraus folgt wiederum, dass wir als Bürger:innen auch politische Parteien akzeptieren müssen, die uns unsympathisch und ideologisch fremd sind – solange sie die fundamentalen demokratischen Spielregeln akzeptieren.  

Einschätzung des Werts des Dialogs

Eine demokratische Gesellschaft lebt von der Vielfalt ihrer Bürger:innen, die ihre Leben nach sehr unterschiedlichen Werten ausrichten und auch sehr unterschiedlich gestalten. Mit Andersdenkenden den Dialog zu suchen, verstehen wir als Ausdruck davon, dass wir uns für die Perspektive des anderen interessieren, ohne uns sympathisch finden oder politisch einig sein zu müssen.

Kompromissbereitschaft

Die Bereitschaft zum Kompromiss, auch bei Themen, die einem politisch besonders am Herzen liegen, ist eine Grundvoraussetzung für eine plurale Demokratie. Für eine gemeinsame Zukunftsgestaltung ist es unerlässlich, dass wir gewillt sind, ein Stück von unserem Standpunkt abzurücken. Im Gegenzug dazu können auch politischen Gegner:innen ein Stück auf uns zukommen, was es ermöglicht, eine gemeinsame Lösung zu erarbeiten.

Call to action

Über den Sommer und Herbst gehen wir mit allen Resultaten unserer Polarisierungsstudienreihe auf eine Schweizerreise und suchen gemeinsam mit Partner:innen aus Zivilgesellschaft, dem Stiftungswesen, der Wissenschaft und der öffentlichen Hand nach zukunftsweisenden Lösungen gegen die Polarisierung.

Sind die Resultate unserer Studie für Dich und Deine Arbeit relevant? Wir freuen uns, wenn Du Dich mit Feedback und Ideen bei uns meldest!

Wie polarisiert bist du?

Möchtest Du mehr über Polarisierung erfahren? Hier gibt’s Lesestoff!

Möchtest Du mehr darüber erfahren, inwiefern Polarisierung ein Problem ist für die Handlungsfähigkeit unserer Demokratie? Folge Pro Futuris auf LinkedIn und abonniere unseren Newsletter, um auf dem Laufenden zu bleiben.

Hier kannst du dich für unseren Newsletter anmelden

Wer wir sind

Pro Futuris ist der Think + Do Tank der Schweizerischen Gemeinnützigen Gesellschaft. Wir beschäftigen uns mit der Frage, wie Zusammenhalt in einer vielfältigen Gesellschaft funktioniert – und wie wir als Demokratie unsere Zukunft selbst gestalten können.

Für die Durchführung der Bevölkerungsumfrage arbeiten wir mit der Forschungsgruppe E-Democracy des Kompetenzzentrums für Public Management (KPM) der Universität Bern zusammen.

Die Studie ist ein gemeinsames Projekt von Pro Futuris und der Stiftung Mercator Schweiz.

Team

Isabel Schuler
Projektmitarbeiterin
isabel.schuler@profuturis.ch
Ivo Scherrer
Projektleiter
ivo.scherrer@profuturis.ch
Flurina Wäspi
Projektmitarbeiterin
flurina.waespi@stiftung-mercator.ch

Newsletter

Sie interessieren sich für dieses Projekt und möchten auch bei weiteren Tätigkeiten von Pro Futuris auf dem Laufenden bleiben? 
Dann melden Sie sich jetzt an!
Deutsch

Polarisierung in der Schweiz

Startseite
Polarisierung der Gefühle und Ideen
Wie eine Demokratie streiten kann, ohne zu zerfallen
Affektive Polarisierung untergräbt unser demokratisches System – was tun?
Wie steht es um die Polarisierung und den Zusammenhalt der Schweiz?

Projekte

Lasst uns reden
Zukunftsrat
Unternehmen für Demokratie

Studien

Geschichten der Heimat
Demokratie 2050